Tampep – ein Schulprojekt

Pfarrer Heiner Bludau berichtet von Tampeps Schulprojekt im Gemeindebrief NOI-WIR.

Erst vor kurzem ist mir aufgefallen, dass in der Metro auf den Monitoren am Bahnsteig neben Wetterbericht und Werbung auch Spots zu Prostitution und Menschenhandel laufen: kurze Bilderfolgen im Comic-Stil, die mit den Worten enden: „Prostitution, Menschenhandel, Sextourismus: Wegsehen macht uns mitschuldig.“ Im Internet (www.etts.info) habe ich dann festgestellt, dass dieses Projekt schon seit zwei Jahren läuft. Offenbar ist das Hinsehen gar nicht so einfach – nicht einmal in Bezug auf die Aufforderung dazu.


Man redet lieber nicht über dieses Thema. 

Die Frauen am Rand Turiner Straßen und an Feldwegen außerhalb gehören fast schon irgendwie zum hiesigen Stadt- und Landschaftsbild. Da könnte eine nüchterne Zahl aufrütteln: „Jedes Jahr werden weltweit 1.390.000 Personen, in der überwiegenden Mehrzahl Frauen und Mädchen, zu Sexual-Sklaven erniedrigt und gekauft, verkauft und weiterverkauft wie Rohstoffe, wie Geiseln oder Trophäen.“


Seit einem Jahr unterstützt unsere Gemeinde den gemeinnützigen Verein Tampep Italia, den örtlichen Ableger einer europaweiten Organisation. Deren Aktivistinnen nehmen Kontakt zu betroffenen Frauen auf, um Gesundheits- und Rechtsberatung anzubieten. Sie engagieren sich aber auch in der Öffentlichkeitsarbeit.


Weil ich mehr über die Arbeit des Vereins erfahren wollte, habe ich Rosanna, die Präsidentin und Piera an einem Spätnachmittag in ein Gymnasium begleitet.


Ihr Ziel: In einem dreiteiligen Projekt eine Abiturklasse über Menschenhandel und Sextourismus zu informieren und zu sensibilisieren. Die Klasse besteht aus über 20 Schülerinnen und einem Schüler.

Mit ihnen über solch ein schwieriges Thema reden – wie soll das gehen?


In der Woche davor wurde wohl ein Video gezeigt. Heute aber geht es ganz anders weiter: Die Bänke werden zur Seite geschoben, in der Mitte des Raumes werden drei Felder markiert. Ein Feld bedeutet: „bin einverstanden“; ein anderes: „bin nicht einverstanden“. Dazwischen: „bin mir nicht sicher“.


Die Schüler sollen Stellung beziehen – im wörtlichen, körperlichen Sinn. Es beginnt mit einfachen Aussagen, z.B. „Urlaub bedeutet Abenteuer“. Nicht alle, aber viele stellen sich auf das Feld „bin einverstanden“. Später werden die Aussagen herausfordernder: „Sex ist für alle Menschen etwas Schönes“ oder „in der modernen Marktwirtschaft kann jeder verkaufen, was er will“. Die Zahl der Schüler in den betreffenden Feldern wird jeweils notiert.


Dann setzen sich alle in einen großen Kreis und die Schüler können sich zu den einzelnen Aussagen äußern. Ganz anders als in den Talkshows redet aber immer nur eine: Diejenige, die den Ball in der Hand hat. Die anderen hören zu – und zwar wirklich! Bis der Ball der Nächsten zugeworfen wird.


Am Anfang müssen Piera und Rosanna ab und zu noch einmal nachfragen. Bald aber kommt die Runde in Schwung. Die Schüler reden über sich selbst. Über Sexualität, über Familie, über Werte, über Hoffnungen über Ängste. Die Lehrerin ist mit im Raum, aber die Frage, ob in der Schule Werte vermittelt werden, wird diskutiert, als wäre sie nicht da. Die Begleiterinnen stoßen nur an, fragen mal nach, ermutigen, aber bewerten die Beiträge nie. Und alle kommen zu Wort, wirklich alle. Ohne Druck.


Nach anderthalb Stunden läutet die Schulglocke. Zwei Schülerinnen müssen aufbrechen, weil sie eine andere Veranstaltung besuchen müssen. Die anderen bleiben und reden weiter.


Nach zwei Stunden verabschiede ich mich und gehe bereichert und irgendwie beglückt nach Hause. So kann es gehen, denke ich mir. Nicht das düstere Problem prägt das Gespräch, sondern Menschen öffnen sich einander und es entsteht ein Raum des Vertrauens, in dem miteinander auch die Probleme angeschaut werden können. Nicht als etwas Exotisches, fern aller eigenen Erfahrung, sondern mit Bezügen zur eignen Person. In dieser Perspektive könnte es geschehen, dass die Frau am Straßenrand nicht länger wie die Alleebäume zum Stadtbild gehört, sondern zum Mitmenschen, zum Nächsten wird – wenigstens zunächst im eigenen Kopf. Ich bin froh, dass wir als Gemeinde Tampep unterstützen.


Ihnen wünsche ich einen schönen Sommer mit vielen menschlichen Begegnungen. Ihr Pastor Heiner Bludau

 


(Der Artikel ist in der Mai-September-Ausgabe 2013 unseres Gemeindebriefs NOI/WIR erschienen.)


Italienische Version - Tampep - un progetto per le scuole