Die Gedanken sind frei – Kinderwagen und Menschenwürde

Herbst 1993


Eine frischgebackene deutsche Diplomübersetzerin stellt in der Via Bologna, Turin, einen Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung. Warteschlange mit allen Nicht-Afrikanern sowie Jägern und Anglern in einer ehemaligen Garagenzufahrt, bis auf zwei ausrangierte Sessel nur Stehplätze.

Pro Tag gibt es 25 Wartenummern, wer später kommt, muss hoffen, dass bis mittags die offizielle Warteschlange abgearbeitet wurde. Kaffeepause außerhalb des Warteraums führt zum Verlust der Wartenummer. Informationen über die notwendigen Unterlagen für die Antragsstellung werden nicht vorher ausgegeben, sicher sind Passbilder und eine Steuermarke (marca da bollo) erforderlich. 


Formulare müssen in Anwesenheit des zuständigen Beamten = Polizisten ausgefüllt werden. Die deutsche Antragstellerin kommt endlich an die Reihe, darf das Formular ausfüllen. Auszug aus Fragen und Antworten:


Welches Verkehrsmittel haben Sie beim Grenzübergang benutzt? Zug

Über welchen Grenzübergang sind Sie nach Italien eingereist? Chiasso (Schweiz)

Aufenthaltsgrund: Arbeitssuche 


Es sollen ausschließlich wahrheitsgemäße Antworten gegeben werden, Zuwiderhandeln ist strafbar. Aufenthaltsgenehmigung ist ab Datum der Antragsstellung gültig, telefonisch wird keine Auskunft erteilt, ob der Antrag schon fertig ist. Kommen Sie einfach in einem Monat auf Verdacht vorbei. Arrivederci. Avanti il prossimo.

Die Aufenthaltsgenehmigung war nach einigen Wochen fertig. Gültigkeitsdauer: 3 Monate (von denen knapp die Hälfte schon abgelaufen war). Auszug aus den dort geschriebenen Angaben:


Verkehrsmittel für Grenzübergang: Auto

Grenzübergang: (Brenner) Österreich

Aufenthaltsgrund: Tourismus


Hatte jetzt der italienische Staat widerrechtlich gehandelt oder war die Antragstellerin Opfer einer versteckten Kamera geworden?

Die Antragstellerin war ich, eine privilegierte Deutsche, die bereits bei der Einreise die Landessprache beherrschte; deren Freund für sie bürgen konnte, dass er notfalls eine Rückfahrkarte für sie finanzieren würde; die in Ruhe eine Arbeit suchen (und nach einigen Monaten finden) durfte, die nicht aus ihrem Land geflohen war, um hier eher zufällig Zuflucht zu finden, sondern ganz bewusst in ihr Traumland gezogen war, auf das sie sich seit Jahren vorbereitet hatte.


Sommer 2015


An diese Episode erinnerte ich mich, als wir während der Gemeindeversammlung im Juni 2015 von Barbara Spezini einige Erlebnisse bei ihrem Engagement für Articolo 10 erzählt bekamen. Sie berichtete von ihren Schützlingen, überwiegend Frauen mit und ohne Kinder, die aus teilweise dramatischen Situationen in ihren Herkunftsländern geflohen waren und nun einen Asylantrag stellten. Vor unserem geistigen Auge entstand das Bild von sehr bescheidenen Menschen, die keine großen Ansprüche stellen und sich mit sehr viel weniger zufriedengeben als das, was auch weniger gut situierte italienische Familien als Standard betrachten. Denen entsprechend mit wenig Aufwand viel geholfen werden kann: durch nach Absprache mit Barbara abgegebene Einkaufstüten mit Lebensmitteln, Windeln… durch Ausführung kleinerer Handwerksaufgaben in der vorübergehend bezogenen Wohnung, Begleitung bei Behördengängen, Hilfe bei Arbeits- und/oder Wohnungssuche...“

Besonders nachdenklich machte mich die Bemerkung, dass die werdenden Mütter bei aller Bescheidenheit oft einen besonderen Wunsch für ihr Baby äußern: einen neuen Kinderwagen. Vieles andere würde gern auch aus zweiter oder dritter Hand übernommen, aber der Kinderwagen sollte ein Ausdruck der Hoffnung sein, dass das neue Leben im noch fremden Land unter besten Voraussetzungen beginnen möge. Barbara brachte es auf den Punkt: „Dann ist das keine Laune, sondern ein menschliches Grundbedürfnis, seinem Kind eine positive Zukunft bieten zu können. So ein Kauf ist dann eine Frage der Menschenwürde.“ – Richtig, dachte ich, als wir für unser erstes Kind einen Kinderwagen erwarben, verlangte auch niemand Rechenschaft dafür.

Nach den unzähligen Sommer-Wortmeldungen von Menschen, die wahrscheinlich noch nicht einmal als Privilegierte irgendwann in einem fremden Land ein neues Leben begonnen haben, geschweige denn, per überfülltem Schlauchboot über das Mittelmeer vor Bürgerkriegen, Naturkatastrophen und existenzbedrohender Armut geflohen sind, kann die Besinnung auf die Menschenwürde für alle nicht häufig genug stattfinden. Menschenwürde muss der Dreh- und Angelpunkt für alle Diskussionen, aber auch für alle konkreten Hilfs- und Lösungsansätze bleiben, sein, werden.

Sabine Wolters


Erschienen im Gemeindebrief NOI-WIR - Ausgabe Oktober-November 2015

Italienische Version des Artikels: Va' pensiero - Di carozzine e dignità umana